1313. Beethoven an Franz Xaver Piuk
Mödling am 19ten Juli 1819
Euer wohlgebohrn!
Indem ich vernehme, daß sie das Referat in der Angelegenheit meines Neffen übernommen, nehme ich mir die Freyheit, mich in einigen Puncten offenhehrzig zu aüßern – Man will neuerdings meinen Neffen vor eine Comission gebracht wißen, dies kann ich durchaus nicht billigen, Unschuldig ist er, dies Zeugniß kann ich ihm geben, die Wenige Unterstüzung, welche der von mir eingesezte Vormund von der O.[ber] V.[ormundschaft] genoßen, ist einzig u. allein nebst den Intriguen u. Boßhaften Listen der Mutter schuld, daß mein armer Neffe u. Mündel um ein ganzes Jahr in seinen Studien zurückgesezt worden – Es ist nun geschehen, ihn aber vorzufordern ist nicht räthlich, da er gegen SeineMutter zeugen muß, u. durch die vielen Zulaßungen u. durch schwankendes Benehmen mit der Mutter würde er auch vieleicht durch der Mutter Bearbeitungen gegen mich zeugen, wie er dieses durch ihre Boßheit verleitet, auch schon gethan, übrigens aber gehört kein Knabe vor irgend ein Gericht im 13ten Jahre, " Solum humanae Faciei tegumentum decorum, modestia et verecunda " Was soll aus der schamhaftigkeit werden, wenn so viele Zeugen seiner Gebrechen u. seiner Irrthümer nur durch die Böse Mutter veranlasset sich ihm zeigen?!!! noch einmal Er ist unschuldig an allem, will die O.V. Auskunft während der Niederlegung meiner Vormundschaft, so bin ich dazu erbötig, u. ohnedem schikt es sich von selbst, wenn Er sollte befragt werden, daß ich an Seiner seite seyn müßte, jedoch ist es beßer, daß ich allein hierüber nöthigenfalls alles erlaütere, indem ich am besten weiß, wie die Fäden zusammengeknüpft worden – der arme irregeleitete braucht Ruhe, um zu sich selbst zu kommen, dies ist das einzige, was ihm helfen kann, Seine Fehler u. Irrthümer gehören vor ein HaußGericht, u. dazu bin ich u. derjenige, welcher nebst mir die Erziehung leitet. –
Ruhe u. keine fernere+Opposition+ mehr gegen meine wohlüberdachten Beschlüße in Ansehung seiner Erziehung – nun kommt es noch darauf an, wie es mit dem sehen zwischen Mutter u. sohn gehalten werden soll, ich beharre drauf alle 2 Monathe einmal, weil ohnehin diese Mutter Moralisch u. politisch tod für ihn seyn muß, Sie ist durchaus nicht mehr zu beßern, aber was kann noch alles an meinemNeffenVerdorben werden?!!! mit unerschüttlicher Standhaftigkeit muß hier gehandelt werden, abgewehrt, u. die Zügel auf's straffste gehalten – jede Inkonsequenz bestraft sich durch sich selbst – Giannattasio, wo er 2 Jahre hindurch im Institut war, wollte es gar nur alle vierteljahre einmal geschehen laßen, daß die Mutter meinen Neffen sehen sollte, das abhohlen zu ihr wollte er gar nicht zulaßen, ein Brief hierüber von demselben, muß sich unter den Papieren bey der O.v. finden –
ich kann nichts anders als drauf dringen, als daß man sich an das halte, was die L.[and] R.[echte] Verordnet in Ansehung dieser unnatürlichen Mutter, von mir allein hat es abgehangen, wie u. wann sie ihn sehen soll, Giannattasio wollte dies selbst in seinem Hause nicht zulaßen, u. Es geschah einigemal bey mir, daß aber ihre Mütterliche Sehnsucht nicht erheblich war bezeugt, daß sie ihn anderthalb Jahre hindurch Nicht gesehen habe, während der Zeit, als er bey Giannattasio im Institut war. –
übrigens ist die Mutter einmal den Gesezen gemäß von Vormundschaft sowohl als vom Einfluß auf Erziehung u. Umgang ausgeschloßen, gemäß dem wurde sie auch bey den Landrechten behandelt, als aber ihre Boßheit ihr VerleumdungsGeist auf's höchste stieg, bat ich um Untersuchung, u. um auf endliche abweisung ein für allemal derMutter, welche nur immer das wohl ihres Kindes des Privathaßes gegen mich opfern wollte, man bewilligte also bey den l.r. eine Komißion, u. hier war es mit Recht, daß mein Neffe auch vorgeladen wurde, troz allen Verleumdungen der Mutter u. ihrer Helfershelfer war nichts gegen mich aufzubringen, allein es kam die Rede auf das wörtchen Van, u. ich hatte stolz genug zu erklären, daß ich mich nie um meinen Adel bekümmert. – hierdurch gelangten wir <...?> an den L.[öblichen] M.[agistrat] – Es gestaltete sich gleich hier eine Parthey für die Mutter, ohne zu bedenken, daß hier gar keine zwei Partheyen seyn können, denn man wird mich schwerlich irgendwo in der welt mit einer Person auf +eine+ stufe stellen, welche den Kriminalgerichten übergeben war – erlaßen sie mir die schauerlichen Details hierüber – sapienti pauca –
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Franz Xaver Piuk (um 1753 – 1826), Magistratsrat im Senat für bürgerliche Rechtssachen.
2
Piuk hatte das Referat Anfang Mai 1819 von Leopold Joseph Pianta übernommen.
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Es ist nicht geklärt, um welche Kommission es geht. Bereits am 10.7.1819 war der Neffe zusammen mit dem Institutsvorsteher Joseph Blöchlinger vor den Magistrat geladen worden, s. die amtlichen Verfügungen auf Brief 1311 vom 5.7.1819. Wahrscheinlich hat Piuk von einer weiteren Vernehmung vorläufig abgesehen. Nach dem 20.8.1819 wurde der Neffe allerdings erneut vorgeladen, s. die Denkschrift vom 18.2.1820.
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Mathias Tuscher. Er übte diese Funktion vom 27.3.1819 bis zum 5.7.1819 aus.
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"Das einzige Ehrenkleid der menschlichen Gestalt ist Schamhaftigkeit und Wahrhaftigkeit."
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Bereits am 5.7.1819 (Brief 1311) hatte Beethoven um eine schriftliche Anweisung gebeten, die Blöchlinger ermächtigen sollte, die Besuche der Mutter abzuweisen.
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Der Neffe Karl war vom 2.2.1816 bis 24.1.1818 in Giannattasios Erziehungsinstitut untergebracht.
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Brief 901 vom 11.2.1816.
9
Siehe hierzu Brief 861 vom 15.12.1815 (Anm. 2) und gerichtlichen Entscheid vom 9.1.1816.
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Vgl. das Protokoll der Vernehmung durch das niederösterreichische Landrecht am 11.12.1818 (Wien, Stadt- und Landesarchiv, Hauptarchiv-Akten, Persönlichkeiten, B 14, fol. 54 – 58) in TDR IV, S. 550ff.
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Beethoven spielt auf die Verurteilung der Mutter im Jahre 1811 an, s. Brief 861 .
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"Dem Weisen genügt weniges" ; lateinisches Sprichwort auch in den Formen "verbum sapienti sat" und "dictum sapienti sat est" (Terenz, Phormio) überliefert.